Die Faust-Tradition im Überblick


Einen Überblick über die Faust-Tradition zu geben, kann über einige Zahlen und Schlagworte nicht hinauskommen. Man hat den Faust-Stoff mit gutem Grunde den Stoff der Stoffe genannt: Auch außerhalb der deutschsprachigen Literatur existiert keine andere Gestalt desselben Namens, die über so lange Zeiträume hinweg und in solcher Zahl immer wieder neue Versionen in der Dichtung, der bildenden Kunst und der Musik angeregt hätte. War der historische Faust ein Deutscher, so brauchte es nach der in Frankfurt 1587 erschienenen Historia von D. Johann Fausten nur wenige Jahre, bis diese fingierte Lebensbeschreibung in einige europäische Nachbarsprachen übersetzt wurde und bis in England Christopher Marlowe mit seiner Tragicall History die erste Dramenfassung vorlegte. Die Internationalität der Faust-Beschäftigung zeigt sich in holländischen Bildern des 17. und in tschechischen Liedern des 18. Jahrhunderts, vor allem aber in den Übersetzungen des goetheschen Faust, die heute in über 50 Sprachen in aller Welt Lektüre und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser wohl am weitesten verbreiteten Dichtung überhaupt ermöglichen. – Zusammenfassende Darstellungen der gesamten Faust-Tradition sind naturgemäß selten und immer bei ihrer Publikation bereits überholt, da noch heute jedes Jahr neue Versionen auf den Markt kommen. Die umfassendste, freilich nur in Titelnennungen komprimierte Information findet der Interessierte in den ca. 17000 Angaben von Hans Hennings fünfbändiger Faust-Bibliographie, deren erster Band schon 1966 erschien und deshalb besonders ergänzungsbedürftig ist. Kein Einzelner kann heute mehr kompetent DIE Faust-Tradition beschreiben; nur noch über Spezialgebiete lässt sich profunde Information erreichen, etwa über Faust im Lied, Faust in Ballett und Pantomime, Faust in Oratorien und Kantaten, Faust im Kino, Faust im 20. Jahrhundert.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 43]

Faust-Tradition im 17./18. Jahrhundert

Den Autoren des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts, die über den historischen Faust schreiben, ist es oft zweifelhaft, ob dieser überhaupt gelebt habe. Manche von ihnen bestreiten rundweg seine Existenz und erklären alle Nachrichten über ihn für pure Fabelei und lächerliche Ammenmärchen. Freilich sind solche Fehlurteile durchaus verständlich: an gesichertem Material über den Namensgeber der in Volksschauspiel und Puppenspiel, in den Volksbüchern wie auch in Gedichten und Liedern präsenten Faust-Tradition liegt nahezu nichts vor – und stattdessen kennt man den Faust der Literatur als einen, der mit Teufeln und Zauberei und Wunderdingen zu tun hat. Für die Aufklärer, die alles nicht auf natürlichem Weg Erklärbare für mittelalter-finsteren Unsinn hielten, gehörte auch der mit Tausend Unglaublichkeiten behangene Faust in den Bereich fantastischer Tollheiten, in jenen Bereich, der nichts mit der nun hochgepriesenen Vernunft zu tun hatte. Es kommt hinzu, dass diese Ära stolzer Gelehrsamkeit mit einem lächerlich gewordenen Standeskollegen nichts zu schaffen haben mochte, außerdem, dass der einstmals kirchlich verdammte übergroße Wissensdurst jetzt zum Ideal geworden war. Der traditionelle Faust der volkstümlichen Spiele und der epischen wie lyrischen Moritaten galt als triviale Sensationsfigur, nur noch geeignet für die billigen Vergnügungen der ungebildeten Masse. Dass die Bühnen weiterhin großen Zulauf erzielten, wenn Faust auf dem Programm stand, dass die Buchhändler mit Faust auf dem Titel nach wie vor glänzende Geschäfte machten – die verursachte den würdigen Herren der gelehrten Feder natürlich auch Neid ... 1683 verfasste Johann Georg Neumann mit seiner Dissertation die erste wissenschaftliche Arbeit über Faust, die erste von mittlerweile Tausenden. Des Professor Gottsched um 1730 mehrfach gefälltes Vernichtungsurteil über den Faust-Stoff hinderte in der Mitte des 18. Jahrhunderts Lessing nicht, die Quadratur des Zirkels zu versuchen: das zum bloßen Spektakel heruntergekommene Thema auf die seriöse Kunstbühne zu bringen und gleichzeitig den von übertriebenem Weisheitshunger getrieben Doktor nicht mehr wie bisher zur Hölle fahren zu lassen, sondern ihn zu retten. Goethe ist also keineswegs der erste, der Fausts Lebenskurve nicht im ewigen Feuer enden lässt. Als er in Weimar seinen Urfaust vorliest, 1775, lässt der Österreicher Paul Weidmann seinen Faust Gnade finden – eine Entwicklung, die sich im katholischen Raum Österreichs im frühen 18. Jahrhundert ankündigte. [Faust-Museum KnittlingenS. 101]

Faust-Tradition in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint eine Fülle von Faustdichtungen, sodass ein Kritiker nicht ohne Berechtigung behaupten kann, die deutsche Dichtung sei mit ,Fäusten geschlagen'. Dass Goethe an einem großen Faust-Text arbeite, weiß jedermann seit 1790; als 1808 Der Tragödie erster Teil erscheint und 1832 nach Goethes Tod der Zweite Teil, wird diese Dichtung für alle selbst an Faust interessierten Literaten entweder zum Anstoß eigener (Fortsetzungs-) Bemühungen oder zum negativ-hemmenden Hindernis für neue Versionen: jeder neue Faust erscheint als Ilias post Homerum. Kein Wunder, dass die Faust-Fassung nach Goethe oft zu Faust-Fassungen gegen Goethe werden, insbesondere gegen seine katholische Rettung des Teufelsbündlers, gegen die Allegorik des Zweiten Teils, gegen die Entschuldung eines Sünders, bei dem unverständliche Gnade vor Recht ergangen war. Etwa in den Dichtungen Grabbes und Lenaus fährt Faust wieder, entsprechend der vorgoetheschen Tradition, in die Hölle, hat er die Rechnung für sein vermessenes Überhinaus zu bezahlen. – Gleichzeitig entstehen die ersten bedeutenden Faust-Werke der Illustratoren und Komponisten, Bilderzyklen also und Lieder, Faust-Portraits und Symphonien: hier wirkte vor allem Goethes Faust als Anregung, aber auch andere zeitgenössische Versionen dienen als Vorlage. – Im Gefolge der nicht immer ungeteilten Bewunderung von Goethes positiv endender Tragödie entsteht nun neues Interesse an den früheren Traditionsstufen des Faust-Stoffes, an den Puppen- und Volksschauspielen, an den sogenannten Volksbüchern, auch am historischen Faust. Als 1818 die erste Übersetzung von Christopher Marlowes Faust-Dramatisierung publiziert wird (von Wilhelm Müller, mit einer Vorrede Achim von Arnims), kommt zum ersten Mal die Kontinuität eines Stoffes in den Blick, die Goethes Leistung zugleich erkennbar und relativierbar macht. Faust, das wird nun jedermann deutlich, war nicht immer bloß ein Spiel für die kleinen Leute, ein Spiel, das ihrem Bedürfnis nach spektakulärer und deftiger Unterhaltung entgegenkam, Faust – das war bei Marlowe bereits eine Tragödie, ein anthropologisches Experiment mit Ernst und Konsequenz, ein Modellfall, an dem das notwendige Scheitern menschlicher Vermessenheit exemplifiziert wurde. Vor solchem Hintergrund musste Goethes Lösung umso problematischer und fragwürdiger erscheinen. Marlowes traditionskonformer Schluss mit der teuflischen Rache erschien stimmiger, und in ebendiese Tradition gliederten sich die neuen Faust-Autoren wieder ein.

Hans Mayer schreibt in seinem Aufsatz Faust, Aufklärung, Sturm und Drang zum Dramenschluss der Grabbe-Lenau-Generation: ,stets wirkt der Ausklang, verglichen mit Goethes Tragödie, als Zurücknahme, als erneutes Einmünden in die Tradition der Warnliteratur vor freventlichem Überheben und ewigem Verderben. Goethes Faust-Deutung erweist sich in der deutschen Literaturgeschichte als ebenso großartig wie gefährdet, ebenso kühn wie folgenlos. Nur die Epigonen empfanden sie als vorbildhaft.' (In: Sinn und Form 13, 1961, S. 103) [Faust-Museum KnittlingenS. 125]

Zu Nicolaus Lenau [1802 - 1850], Faust. Ein Gedicht. Stuttgart und Tübingen 1836.

An Georg Reinbeck schreibt Lenau am 11. November 1833: ,Daß Goethe einen Faust geschrieben, kann mich nicht schrecken. Faust ist ein Gemeingut der Menschheit, kein Monopol Göthes ...'

Johann Georg August von Hartmann schreibt Lenau am 18. Juni 1835: ,Mein Faust ist nicht mehr zu retten aus den Klauen Mefistels. Er hat ihn schon. Gebet Gott, was Gottes, und dem Teufel, was des Teufels ist. [...] Der Teufel muss auch leben. Der Faust ist ein Leckerbissen für seine infernalen Geschmackswärzchen, und hat er einmal einen solchen Leckerbissen auf der Zunge, so schluckt er ihn auch vollends hinunter. Nur fade Brocken removiert dieser Feinschmecker. Darum hätte nach meiner Ansicht Göthe seinen Faust nicht retten sollen ...'

Hartmann meldet er am 15. August 1835: ,mein Faust wird als eine Ilias post Homerum in Verruf geraten.'

Emilie Reinbeck erfährt im Brief vom 15. Oktober 1835 nur andeutungsweise vom Selbstmord des lenauschen Faust: ,Der Schluss hat eine Wendung genommen, die Sie überraschen wird ...'

(Alle Zitate aus: Lenau, hrsg. von E. Castle, Bd. III, 1. Teil. Leipzig 1910 ff.) [Faust-Museum KnittlingenS. 130]

Faust-Tradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Parodien

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht eine einzige Faust-Version, die trotz ihrer deutlich parodistischen Anlehnung an den Zweiten Teil von Goethes Faust als originell bezeichnet werden darf: Faust. Der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich Friedrich Theodor Vischer, der sich 60 Jahre seines Lebens ohne größere Pause mit Goethes Faust beschäftigte und der in seiner Nicht-nur-Parodie vor allem jene Goethephilologen aufs Korn nahm, die als Stoffhuber oder Sinnhuber die so glücklich endende Tragödie Goethes entweder nüchtern-positivistisch reduzieren oder symbolisch-allegorisch überhöhen wollten. – Es ist dies die große Zeit der Interpreten, die sich vor allem an Goethes Faustversuchen, detailversessen und faktenklaubend, nach Einflüssen und Quellen und Vorstufen und Vorlagen fahndend. Und es ist die große Zeit der Illustratoren und Buchausstatter, die den goetheschen Faust in immer prachtvollerem Gewand auf den Markt bringen, schon im Äußerlichen anzeigend, dass es sich hier um das Werk der deutschen Dichtung, ja insgesamt der Weltliteratur handle, um einen unübertreffbaren Superlativ, dem sichtbare Denkmale zu errichten seien. Die Hochschätzung von Goethes Werk, die ganz offenbar weitere originäre Faust-Dichtungen in Deutschland verhindert (und selbst im musikalischen und künstlerischen Bereich zeigt sich nun das Ausland selbstständiger und unbefangener), nimmt besonders nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich 1870/71 zu: nun meint man, das Wort vom freien Volk auf freiem Grund in den nationalen Seelenhaushalt eingemeinden zu dürfen. Und nun meint man auch – und diese Meinung wird sich über die Nazis bis in neueste Gewaltsysteme halten , dass man gut faustisch sündigen dürfe, weil ja von Goethe an seinem Faust exemplarisch die Rettungsgarantie aufgezeigt worden sei. – Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt die ersten Versuche, Goethes Faust in seinen beiden Teilen auf die Bühne zu bringen, an einem oder zwei oder drei oder vier Abenden. Und in dieselbe Zeit fällt auch die Geburtsstunde bis heute ungezählter Abituraufsätze über Goethes Faust, Geburtsstunde entweder von lebenslanger Faszination oder von bleibender Aversion. Die Vokabel vom Faustischen geistert durch die Gymnasien und durch die Feiertagsreden als eine beliebig zu füllende Leerformel, deren schrecklichste Inhalte vom größten deutschen Dichter entschuldet scheinen.

Eine auch nur annähernd vollständige Übersicht über Faust-Parodien zu erlangen, ist kaum möglich: Zu viele Versionen (auch halb-, fast- oder nur gewollt parodistischer Art) verbergen sich, zudem zuweilen unter ganz anderslautenden Titeln, in Polterabendscherzen, Bierzeitungen, Abiturreimereien, akademischen Juxdichtungen u.s.f. [Faust-Museum KnittlingenS. 143]

In einem Brief an Julius Ernst von Günthert schrieb Vischer 1862: ,Vorigen Winter schlug ich mir sogar die Stimmung heraus, dem Humor Luft zu lassen in der Schnurre: Dritter Teil von Göthes Faust. Ich schickte sie nur ganz wenigen Freunden, weil ich glaubte, es gehöre zum Spaß, daß die Leute überrascht werden und auf den Verfasser erst raten müssen. Es sollte mich freuen, wenn man die Schnurre auffaßt, wie sie gemeint ist: Göthes Bild ist uns durch das altersschwache, unerquickliche allegorische Machwerk zweiter Teil Faust getrübt. Ich wollte dies Machwerk durch grobe, Aristophanisch cynische, doch auch hanswurstmäßig gutmütige Satire totmachen, von Göthes ursprünglich reinem, echten Dichterbild wegätzen, sozusagen von dem altersschwachen an den jungen Göthe appelieren, der es einem andern ebenso gemacht hätte wie ich ihm; ich wollte die Deutschen befreien von dem Alb, womit dieses lästige Produkt der Senilität auf ihnen liegt, an dem sie sich zergrübeln, womit sie sich unnötig placken, indem kein Mensch es versteht und jedermann doch meint, er müsse sich Vorwürfe machen, daß es ihm nicht gefalle, da es doch von Göthe sei. Zarte Damen verabscheuen meine Posse wegen der Cynismen; die haben natürlich über die ganz anderen Schweinereien in Göthes Faust (Blocksberg) in holder Unschuld weggelesen und wissen von Aristophanes nichts – dem ich übrigens nicht meine, die Schuhriemen lösen zu dürfen.'

In: Julius Ernst von Günthert, Fr. Th. Vischer. Ein Charakterbild. Stuttgart 1889, S. 8.

Vischers Schnurre erregte einen Sturm der Empörung. Die attackierten Goethe-Interpreten hatten es dabei leicht, die eigenen Blessuren zu verschweigen und stattdessen immer wieder zu rügen, dass Goethes Andenken in den Schmutz gezogen worden sei. Auch Vischers Freund David Friedrich Strauß warnte in einem Brief vom 17. Juni 1863 (In: Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. In zwei Bänden hrsg. von Adolf Rapp. Zweiter Band: 1851  1873. Stuttgart 1953, S. 181): ,es wäre zu bedauern, wenn Du Dich durch ursprünglich harmlose Späße immer mehr in einen Gegensatz gegen Goethe hineintreiben ließest, den Du ursprünglich gar nicht in Aussicht genommen hattest. Denn ich bleibe dabei: wir stehen auf Goethe und graben uns selbst die Wurzeln ab, wenn wir uns wider ihn stellen.' [Faust-Museum KnittlingenS. 144]

F. Weg, Der Urgroßfaust. Leipzig 1932.

Einleitend heißt es: ,Wer erinnert sich nicht jener Begeisterung, die das ganze deutsche Volk ergriff, jener Schauer von Ehrfurcht, die jeden einzelnen, vom wissenschaftlichen Buchhändler bis zum Analphabeten, erfaßten, als Erich Schmidt die Handschrift des Frl. von Göchhausen mit dem ,Urfaust' veröffentlichte? Das größte Werk unserer Literatur bis in seine frühen Stadien zurückverfolgen zu können, welche Genugtuung für ein Volk von Denkern und Dichtern, welch ungeheures neues Arbeitsfeld für die Deuter und Kommentatoren! Jenes Ereignis war ein Triumph der Goetheforschung, ein Triumph der Literaturwissenschaft, ein Triumph der Wissenschaft überhaupt!' [Faust-Museum KnittlingenS. 148]

Faust-Tradition im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert ist die Zahl der Dichtungen um Faust, auch die Zahl der Kompositionen und der Werke der bildenden Kunst über Faust kaum mehr zu erblicken. Vor allem haben die Produktionen im außerdeutschen Sprachraum zugenommen – ein Indiz dafür, dass sich im Lande Goethes der von seiner Dichtung ausgehende oder auch in sie hineinprojizierte Leistungsdruck dort nicht so sehr bemerkbar machte und deshalb verkrampfte Fixierungen unterblieben. Goethes Faust, das geht aus vielen Berichten der Kriegsteilnehmer hervor, war besonders im ersten, aber auch im zweiten Weltkrieg häufig im Tornister als ein Erbauungsbuch, dem man zunächst der Bibel am meisten Trost- und Mut-Funktionen zusprach: ein deutsches Evangelium, eine Prophetie, oft genug auch eine vorweggenommene Absolution. – Schon knapp vor der Wende zum 20. Jahrhundert entstehen die ersten Faust-Filme, meist winzige Streifen, effektvoll-dramatisch präsentiert und anknüpfend an Theatererinnerungen aus Goethe oder Gounod. – Eine der beiden wichtigsten Faust-Dichtunden des 20. Jahrhundert entsteht in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges: Paul Valérys Mon Faust. Werden im Vorspruch noch Goethes Protagonisten Faust und Mephistopheles erwähnt, , so hat sich beider Funktion doch radikal gewandelt: der Teufel erscheint als Fossil vergangener Dummheitsepochen, als abgewracktes Kuriosum, dessen alte Attribute wie Klauen und Schweif nur noch lächerlich wirken. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat diesen Teufel keineswegs mehr als einen nötig, von dem er Begehrenswertes zu erwarten hätte. Im Gegenteil: Er ist nun so weit gekommen, dass er dem Teufel einen Pakt anbieten kann, dass er ihm in wiederholt aufgeklärter Zeit Existenzberechtigung verleihen kann --ein Befund, den der Mephistopheles Valérys widerwillig zustimmen muss. – Die zweite Faust-Dichtung, die genannt werden muss, hat mit Goethes Faust allenfalls noch untergründig zu tun: In Thomas Manns Roman Doktor Faustus wird Adrian Leverkühn, der durch Syphilis genial gewordene Musiker des 20. Jahrhunderts, in die Volksbuch-Atmosphäre der Faust-Tradition hineingestellt, ja sogar in die Epoche des historischen Faust selbst mit ihren lutherähnlichen Derbheiten, Maßlosigkeiten und Verteufelungskampagnen. Dieser neue Faustus erscheint weithin als Reprise des Doktors Faust aus der Historia von 1587: ihn umgibt Kälte, sein Hochmut isoliert ihn, seine Aufschwünge machen ihn nur noch einsamer. Verknüpft ist diese Figur des zugleich 16. wie 20. Jahrhunderts mit der Zeitgeschichte unserer Epoche, mit der braunen Barbarei, die Thomas Mann als unbestechlich-parteilicher Beobachter im amerikanischen Exil verfolgte. Im Roman eines Romans, der Entstehung des Doktor Faustus, hat er über die Schilderung seiner persönlichen Exilsituation hianus das Buch einer verlorenen Generation geschrieben. [Faust-Museum KnittlingenS. 151]

Ewald Ludwig Engelhardt, Faust. Ein deutscher Mythos. Artern 1916.

Einleitend heißt es zur Herausgabe der achtzigsten Faustdichtung: ,erstens sollte man endlich aufhören, ungerecht den Dichtern das Ergreifen ,verbrauchter' Stoffe vorzuwerfen, während man doch an dem fünftausendsten Madonnenbilde, sobald es eigenartig gemalt ist, keinen Anstoß nimmt; dann will hier vor allem erwogen sein, daß neben Goethes Doppeldrama wohl keine der bisherigen Faustdichtungen zu überragender Höhe der Form und des Gehalts emporgestiegen ist.' [Faust-Museum KnittlingenS. 152]

Anatoli W. Lunatscharski [1875 - 1933], Faust und die Stadt. Ein Lesedrama. Mit Essay zur Faustproblematik. übersetzt von Eberhard Dieckmann, Franz Leschnitzer und Ingeborg Schröder. Hrsg. und mit einem Essay von Ralf Schröder. Frankfurt a.M. 1973.

In der Vorbemerkung des Herausgebers heißt es: ,Lunatscharskis Lesedrama Faust und die Stadt ist der erste Versuch, ein neues sozialistisches Faustmodell auf der Grundlage der revolutionären Erfahrungen der russischen Arbeiterbewegung in der Periode der bürgerlich-demokratischen Revolution und der Vorbereitung der sozialistischen Revolution zu schaffen. Darin bestehen der einzige literaturgeschichtliche Wert und auch die aktuelle Bedeutung des Stückes für uns heute.' [Faust-Museum KnittlingenS. 152]





Faust-Museum Knittlingen:
Faust-Museum Knittlingen. Exponate, Materialien, Kommentare. / Zusammengestellt von Günther Mahal unter Mitarbeit von Brigitte Bruns und Ottmar Maier – Stuttgart : Verlag Paul Daxer, 1980.
ISBN 3-922815-00-6




 

 

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