Die Volksschauspiele und Puppenspiele


Volksschauspiele

„Die Volksschauspiele vom Dr. Faust [von ‚Englischen Kommödianten — wie sich die Wandertruppen stets publikumswirksam nannten‘] waren während des 17. und bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts diejenige literarische Gattung, die am kontinuierlichsten und am sinnfälligsten das Andenken an DEN Teufelsbündler und Höllenbraten Faust wachhielten.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 87]
„Gaukler, Zauberer, Feuerschlucker, Zahnbrecher mit ihrem akustischen Schutzschirm lautstarker Musikanten, Akrobaten, Bärenführer usf. — dieses bunte Völkchen war aus deutschen Landen zu rekrutieren. Schauspieler aber, gar in Truppenstärke und in der Lage, abendfüllende Stücke darzubieten, gab es im späteren 16. Jahrhundert allenfalls an Jesuitenkollegien oder an einzelnen Höfen. Hier war man also auf Import angewiesen, und dieser kam übers Meer.
Das Auftauchen der Englischen Komödianten auf dem europäischen Festland im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts stellt keine insulare Kulturoffensive dar, keine überlegenem Missionsbewusstsein entstammende Ausfahrt, den literarisch minderbemittelten Bewohnern Mitteleuropas die Segnungen elisabethanischer Dichtungsblüte zu bringen. Die oft viele Jahre langen Exkursionen der unter einem Prinzipal [ein selbstständiger Theaterleiter] straff und arbeitsteilig organisierten Wandertruppen kommen statt aus Trieb aus Not: auf der britischen Insel hat der kulturelle Aufschwung der vergangenen Jahre sozusagen eine Überproduktion von Talenten samt ihren Wasserträgern zustande gebracht, eine Hausse gerade auch auf dem Theater-Sektor; mit der Folge, dass bald mehr Anbieter auf dem mimischen Feld rivalisierten, als der Bühnen-Markt ertragen und zuallererst ernähren konnte. Die transmarine Problemlösung, auch auf anderen öffentlichen Feldern probat, lag deshalb nahe: auf dem europäischen Landstock, vornehmlich im deutschsprachigen Raum, waren weithin Brachgebiete, was Bühnendarstellungen anging; hier konnte, mit Hoffnung auf einigen Ertrag, geackert und geerntet werden.
Schon die ersten englischen Wandertruppen dürften Christopher Marlowes »The Tragicall History Of The Life And The Death Of Doctor Faustus« im Repertoire gehabt haben. Der 1593 unter nie recht geklärten Umständen bei einer Wirtshaus-Messerstecherei ermordete Dramatiker — wie Shakespeare 1564 geboren und sein bedeutendster Vorläufer — hatte sein Stück um 1590 verfasst; unsicher ist, ob es noch zu seinen Lebzeiten auf die Bühne kam. Als sehr wahrscheinlich darf es gelten, dass Marlowe eine Übersetzung der deutschen »Historia« von 1589 benutzte; vielleicht reichte dem versierten Theatermann aber auch die gleichzeitig veröffentlichte Ballade »The Judgement Of God Shewed Upon Ohne John Faustus, Doctor In Divinity« als Stoffspender, möglicherweise sogar bereits die Inhaltsangabe eines Gewährsmannes, der von der deutschen Buch-Sensation berichtete. — Was Marlowe wenige Jahre nach 1587 aus der „Historia“ machte, bedeutete einen qualitativen Quantensprung: aus einer rothaarige und pausbackig erzähltoll und auf vordergründige Spannung bedachten, zudem mit dem christlutheranischen Schlüsselbund die Höllenfahrt einläutenden und drastisch warnend die Schäflein im Pferch haltenden Erzählung wurde ein seriöses Drama, das vor allem im Kopf eines Gelehrten ablief, eines radikalen Skeptikers, der im — Goethe vorwegnehmenden — Eingangsmonolog die Eitelkeit der Wissenschaften demaskierte und der auch im desperat abgeschlossenen Teufelspakt nur schale Befriedigung fand. Entscheidend ist der Schluss: hier beklagt im Epilog der Chor einen zu früh Gekommenen, der untergehen musste.
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Aus dem anfänglichen Misserfolg des auf der britischen Insel begeistert aufgenommenen »Faust« haben die britischen Theaterleute offenbar sehr rasch die Konsequenz gezogen und dem schwerköpfigen Doktor einen Leichtfuß an die Seite gegeben, eine sozusagen im Fundus abrufbare Figur mit einem Eigenschaftenfächer, der sich allein zum Lustigen, Derben und Publikumsverschworenen hin öffnete. Pickelhäring hieß Fausts Retter, in seinem Namen bereits gutturale Bodenhaftung andeutend wie seine späteren Kollegen Hans Wurst (Hanswurst) oder Jean Potage. — Vorlaut, verfressen, bauernschlau, aufmüpfig, bodenständig, gerissen, in seinen Extempores unberechenbar, doch stets von populistischer Eloquenz, dabei immer seinen überhirnigen Chef desavouirend und für die Leute im meist primitiven Parkett ein entlastender Vertreter verschlagen-schwejkscher Daseinsbewältigung — Pickelhäring/Hanswurst/Kasper(le) ließ Fausts Gedankenarbeit, seine Skrupel und seine finalen Nöte als nebensächlich erscheinen. Seine Botschaft war herzhaft, trivial und affirmierend: macht euch klein, aber lacht dabei; habt ruhig Probleme, aber ignoriert sie; meidet — seht nur diesen Faust an! — die offizielle Gescheitheit und die gescheiten Offiziellen; werdet Nachtwächter wie ich; dann bringt die Sonne gar nichts an den Tag.“ [Mahal, S. 23 ff.]
„Die Englischen Komödianten […] benutzten zwar Christopher Marlowes um 1590 verfasste Tragödie als Textbasis ihrer Aufführungen, machten aber aus jenem ernsten Drama schnell ein auf die Lachmuskeln zielendes Spektakel. Der deutschen Sprache nicht mächtig, wurde aus dem problemschweren Stück Marlowes auf der Wanderbühne der Komödianten ein Zwischending aus Musik, Artistik, Feuerwerk: Eine Revue dieser Art kam weithin ohne Sprache aus und ersetzte deren Fehlen durch Handlungsreichtum, akustische und optische Reize. Aus dem Gedankenstück des Engländers wurde somit auf dem mitteleuropäischen Festland ein Kassenschlager, eine Nummernfolge von Sensationen, deren größte am Ende kam: die vom teuflischen Freudengeheul und bengalischem Klamauk begleitete Höllenfahrt-Szene des Sünders Faust, der niemanden mehr als Sünder interessierte, der vielmehr als kurios-verschrobener Professor dargestellt war, dessen Schicksal man nicht mehr nachweinte.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 87]
„Neben der Einführung dieser leichtlebig-lebensklugen Lustigen Figur, die im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts immer mehr Spielraum gewann, dabei zur Kontrastgestalt des von ihr zuschanden parodierten Titelhelden wurde und somit als Erfolgsgarant eines Stückes fungierte, in dem Faust selbst immer marginaler erschien — neben diesem wohl schon früh deutschsprachig agierenden Unterhaltungskünstler und zwinkernden Sozialtherapeuten bedienten sich die englischen Prinzipale noch eines weiteren Applausgaranten, indem sie aus Thomas Dekkers 1612 erschienenem Stück »If It Be Not Good, The Diuell Is In It« Das Höllenvorspiel übernahmen und es Marlowes Drama vorspannten: der wegen lauter minderwertiger Seelen zornige Höllenfährmann Charon erreicht bei Pluto, dass dieser seine saumseligen Teufel auf infernalischen Vorderansicht bringt; als besonders fetter prospektiver Satansbraten wird der Doktor Faust ins Visier genommen.
Dieses Höllenvorspiel wie auch Fausts Höllenfahrt und dazwischen die immer turbulenter ausstaffierte Szene, in der die Lustige Figur mit »Perlicke« die Teufel erscheinen und mit »Perlacke« wieder verschwinden lassen kann — sie boten willkommenen Anlass zu Rauch und Krach, zu Flüchen und Verwünschungen: alles unverkennbare Einladungen an das Publikum, seinerseits Dampf abzulassen und somit ein ofensitzerisches Weltbild zu stabilisieren, endeten doch die überspannten Eskapaden des Doktors so drastisch schlimm. Da hielt man es lieber mit dem Gurgel- und Magenpreis Hanswursts und seinem schließlichen Beamtenglück im Winkel.“ [Mahal, S. 26]
„Weil die Volksschauspiele den Faust-Stoff nur noch als Anlass zu Gaudi und Schabernack nahmen, wurden sie von den Gelehrten des Aufklärungszeitalters mit Spott und Verärgerung glossiert. Gottsched wetterte gegen diese Spiele, und Lessings Freund Moses Mendelssohn warnte vor einer erneuten Dramatisierung des Stoffes, den er ein für alle Mal heruntergekommen glaubte.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 87]

Puppenspiele

„Dass die Puppenspielfassungen eigenen Gesetzen, den Gesetzen der Puppenspielbühne und ihren Traditionen unterliegen, versteht sich von selbst. Dass sie keineswegs nur Spiele für Kinder waren, erkennt man bei den älteren Fassungen auf den ersten Blick. Hanswurst, Kasperle und Harlekin treiben in ihnen ihr legitimes lustiges Spiel. Die Volksweisheit in ihrem Munde ist vielfach sprichwörtlich. Eine stärkere psychologische Motivierung der ernsten Szenen in manchen Spielen ist wohl der Aufzeichnungszeit zuzuschreiben, doch in den komischen Szenen tritt ältestes Spielgut zutage. In fast allen Puppenspielen, die Faust immer in die Hölle stecken, kommt die Skepsis gegenüber zu großer Gelehrtheit zum Ausdruck, wie an der Stelle im Text von Simrock, wo Wagner sich über Kasperle in einem aparte äußert: ‚Man muss Mitleid haben mit dem einfältigen, ungelehrten Menschen. Wenn er studiert hätte, wär er vielleicht so lustig nicht. Je gelehrter ich werde, je mehr büß ich an meiner natürlichen Munterkeit ein.‘ Der ungelehrte, einfältige Kasperle weiß sich aber mit Schlauheit der Hölle zu entziehen.
In einer Selbstbiografie ‚Dichtung und Wahrheit‘ erzählt Goethe von seiner guten Großmutter, die den Enkeln viele Vergnüglichkeiten zu bereiten wusste: ‚An einem Weihnachtsabend jedoch setzte sie allen ihren Wohltaten die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ, und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemüter mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große, langandauernde Wirkung nachklang‘; und später, im zweiten Teil berichtet er aus seiner Straßburger Zeit: ‚Am sorgfältigsten verbarg ich vor ihm (Herder, der ihn wegen mancher Dinge, die er liebte, wie Ovids Metamorphosen, getadelt hatte) das Interesse an gewissen Gegenständen, die sich bei mir eingewurzelt hatten und sich nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten. Es war   G ö t z   v o n   B e r l i c h i n g e n  und   F a u s t.   Die Lebensbeschreibungen des Ersten hatten mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt des rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder, anarchistischer Zeit, erregte meinen tiefsten Anteil. — Die bedeutende Puppenspielfabel des Andern klang und summte gar vieltönig in mir wieder. Auch ich hatte mich in allem Wissen umhergetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerlei Weise versucht und war immer unbefriedigter und gequälter zurückgekommen. Nun trug ich diese Dinge, so wie manche andere, mit mir herum und ergötzte mich daran in einsamen Stunden, ohne jedoch etwas davon aufzuschreiben. Am meisten aber verbarg ich vor Herder meine mystisch-kabbalistische Chemie, und was sich darauf bezog, ob ich mich gleich noch sehr gern heimlich beschäftigte, sie konsequenter auszubilden, als man sie mir überliefert hatte.‘“ [Theater der Jahrhunderte, S. 42 f.]

„In vielen unterschiedlichen Fassungen, stets aber mit gleichem Grundpersonal und ähnlichem Handlungsverlauf, hat sich der Faust an Fäden, der Faust der Handpuppen und der Faust der Schattenspiele zu einem Lieblingsstück der mobilen Kleinbühnen entwickelt. Seit dem 18. Jahrhundert waren es meist Familienmitglieder, die mit ihrem künstlerischen Kleinbetrieb durch die Dörfer und Städte zogen und die nach Texten spielten, die sich vom Vater auf den Sohn vererbten. Die mündliche Tradierung dieser Spieltexte brachte es mit sich, dass man im 19. Jahrhundert vergeblich nach alten Fassungen suchte und nur auf dem Wege der Rekonstruktion eine Annäherung an die früheren ,Drehbücher' erreichen konnte. Endgültige Klarheit fehlt auch bis heute darüber, wann die Puppenspieler mit dem Faust-Stück erstmals auftraten und damit den Wandertruppen Konkurrenz machten: Die früheste belegte Aufführung fand in Hamburg 1746 statt, aber es hat sicherlich schon Jahrzehnte zuvor Inszenierungen mit den Holzköpfen gegeben. — Der Doktor Faust und sein aus Wissenschaftsüberdruss abgeschlossener Teufelspakt wurden im Puppenspiel wie schon im Volksschauspiel als Schlagzeile auf den Theaterzetteln zur Hauptsache gemacht, aber der eigentliche Held der Puppenbühne heißt Kasper. Er ist der direkte Nachfahre des Pickelhärings und des Hanswurst, der bei den Wandertruppen der Englischen und Deutschen Komödianten zum Spaßmacher und oft zum Alleinunterhalter avanciert war. Aber der Kasper mit dem immer lachenden Gesicht, mit seiner gespielten Dummheit und aufsässigen Vorwitzigkeit, mit seinem bauernschlauen Sichdurchwursteln, mit seiner bewussten Bodenständigkeit und mit seinen direkten Publikumsansagen war viel mehr als bloß eine lustige Figur: Er war für die Zuschauer Freund und Ratgeber, Bundesgenosse und Stellvertreter in einem — insbesondere dafür, sich nicht wie der Doktor Faust aufs Glatteis eines hybriden Überhinaus führen zu lassen. Kasper wirkte auf jedermann entlastend der an seinem Beispiel sah, dass es besser sei, auf dem Teppich zu bleiben, Ärger durch Humor zu bekämpfen und allen Schwierigkeiten listig zu entgehen — notfalls mit der List, die anderen Menschen und die Teufel im Glauben ihrer Überlegenheit zu wiegen. — Der Doktor Faust, der am Schluss des Puppenspiels von der Hölle die Rechnung vorgelegt bekommt, erfährt kein Mitleid mehr; sein Ende erscheint eher als folgerichtige Kuriosität. Das letzte Wort bleibt dem Nachtwächter Kasper, der lieber unter seinem Ehedrachen Gretl leiden mag, als von den Höllendrachen zum ewigen Schmorbraten gemacht zu werden.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 95]

„Die Geißelbrecht-Edition des Obersten von Below (1832) bildete den Auftakt einer regelrechten, im Ertrag freilich eher bescheidenen Jagd nach Puppenspiel-Texten; die meisten konnte Johann Scheibles bewundernswertes Sammelwerk »Das Kloster« 1847 präsentieren. Ein Jahr zuvor erschien bei Brönner in Frankfurt die bei allen Schwächen sprachreinigender und Deftigkeiten eskamotierende Art doch bis heute maßgebende Version, nämlich Karl Simrocks philologisch ‚saubere‘ Puppenspiel-Rekonstruktion »Doctor Johannes Faust«. Aus mehreren Text- und Hörvorlagen schneiderte er sozusagen einen Maßanzug unanständigen Zuschnitts, mit dem die junge Germanistik ebenso Leben konnte wie das biedermeierliche Bürgertum. Simrocks beruhigter Standard-Puppen-Faust dient Bis heute vielen Textneufassungen als Basis, was vor allem einen Verlust zur Folge hat: das Höllen-Vorspiel entfällt und mit ihm eine Anti-Idylle, die den früheren Zuschauern stets höchstes Vergnügen beschert hatte.“ [Mahal, S. 30 f.]

„Eine deutliche von der Hochschätzung Goethes geprägte, gleichwohl heute noch gültige Zusammenfassung gibt Karl Köstlin in seinem Aufsatz Ueber den historischen und mythischen Faust und die Goethe'sche Faustdichtung (In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 29. 1866, S. 248 f.): ,Dieses Puppenspiel ist nun freilich nicht viel weiter, als was sein Name erwarten lässt, ein Marionettenstück ziemlich ordinären Schlages. Es drängt die Geschichte des Helden in engere Grenzen zusammen und zieht sie in die niedere Sphäre des Burlesken herab; das edlere Motiv des Strebens nach Befriedigung des Wissensdranges tritt (wie auch bei Widmann [1599]) ganz zurück; Faust ist eben ein schwelgerischer Genussmensch. Allein trotz seiner Unbedeutendheit und gerade durch sie hat auch das Puppenspiel die Faustdichtung um einen großen Schritt weiter gefördert. Es hat die Historie vereinfacht, es hat eine Masse weitläufigen Ballastes aus ihr hinausgeworfen, es hat ihr geschwinden Fortgang, raschen Szenenwechsel und leichte, wenn auch possenhafte Grazie gegeben; es hat durch die Leerheit, zu welcher es die ursprüngliche Faustgeschichte verdünnte, freien Raum und freie Luft geschafft für neue, selbstständigere, gedanken- und fantasiereichere Behandlung, und so ist es in jeder Beziehung der unscheinbare, aber unentbehrliche Wurzelzweig geworden ...‘“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 95]

„Luzia Glanz, Das Puppenspiel und sein Publikum. Berlin 1941, betont S. 41 ff., dass im ältesten Puppenspiel-Typ, dem Ulmer Spiel, der hier noch Pickelhäring genannte Hanswurst oder Kasper ,mit dem eigentlichen Spiel in keinem inneren Zusammenhang‘ steht. ,Pickelhäring ist noch alles andere als parodierender Gegenspieler‘ Fausts. ,Dem Lande Österreich blieb es vorbehalten, das feuchte Element in das Faust-Spiel zu bringen, das Verbindende, Ausgleichende, das, was die Antike den Humor nannte. Indem Hanswurst zum parodierenden Gegenspieler Fausts wird, wird das Tragische angeleuchtet von einer Komik, die da geboren ist aus weiser Selbstbescheidung ... Hanswurst weiß nichts von subjektivem Entgrenzungsdrang. Über den engen Rahmen seiner glanzlosen, aber glücklichen Existenz strebt er nicht hinaus. Weil er weiß, wo seine eigenen Grenzen liegen, weiß er auch um die des Teufels. Bei Faust ist der Teufel eine kosmische, absolut herrschende Macht. Der Mensch, gerät er in ihren Bannkreis, ist ihr hoffnungslos verfallen. Für Kasper aber sind die Teufel nur dazu da, dass man sie neckt und plagt, sie so lange und so geschwind durch das zauberische »Perlicke! Perlocke!« heraus- und hereinjagt, bis sie vor Angst nicht mehr wissen wohin. Der Zauberkreis, der noch von Fausts Beschwörung daliegt, und in den Kasper sich hineingesetzt hat und in den die Furien nicht hineinkönnen, symbolisiert treffend die Begrenztheit seines eigenen Lebenskreises, in den die bösen Dämonen nicht eindringen können und in dem er gesichert vor ihnen lebt, solange er nicht darüber hinausstrebt ... Niemals wäre das Faust-Spiel in dem Maße volkstümlich geworden, hätte der Teufel auf der ganzen Linie seine unumschränkte Macht behauptet und hätte er nicht wenigstens vor Hanswurst kapitulieren müssen. Absolut tragische Endwirkungen liegen dem volkstümlichen Empfinden fern. Das naive Gemüt, das sich durchaus durch tragisches Geschehen erschüttern lässt und selbst den Schauer einer Höllenszene uneingeschränkt zu genießen vermag, sucht aber auf der anderen Seite nach versöhnender Kompensation. Es hat sie gefunden in den erquickenden Parodierungsszenen seines Hanswurst.‘
“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 97 f.]


- Faust-Museum Knittlingen:
Faust-Museum Knittlingen. Exponate, Materialien, Kommentare. / Zusammengestellt von Günther Mahal unter Mitarbeit von Brigitte Bruns und Ottmar Maier – Stuttgart : Verlag Paul Daxer, 1980.
ISBN 3-922815-00-6

- Mahal, Günter:
Faust und Frankfurt. Anstöße, Reaktionen, Verknüpfungen, Reibungen / Günter Mahal. - Frankfurt am Main: Verlag Waldemar Kramer, 1994. 160 S.
ISBN 3-7829-0446-x

- Theater der Jahrhunderte:
Theater der Jahrhunderte — Faust (1. Band) Albert Langen – Georg Müller Verlag, München und Wien, 1970 Herausgegeben und mit einem Vorwort von Margret Dietrich 376 S.




 

 

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