Die Faustsage/Faustlegende


„Der Faust der Legende, das ist zum einen Geschichten-, Anekdoten-, Legendenmaterial, das zu Lebzeiten des historischen Faust noch von anderen Magiern oder Teufelskerlen erzählt wurde — oft von Gestalten, die schon Jahrhunderte zuvor gelebt und ihre Mitwelt verblüfft hatten. Zum anderen stellt sich der Faust der Legende (Legende wie auch Sage sind freilich, genaugenommen, nicht so recht passende Begriffe) als eine Art Magnet dar, der bereits zu Lebzeiten des Knittlingers und noch mehr nach seinem Tod all jene tolldreisten und wunderbaren Streiche und Taten an sich bindet, die man sonst niemandem zugetraut hätte als eben dem Doktor Faust. Ob sich der historische Faust bei seinen öffentlichen Aktionen und Provokationen, bei seinen Versprechungen und Behauptungen selbst bewusst in die Nachfolge eines Simon Magus oder eines Albert Magnus stellte, lässt sich ebenso wenig schlüssig nachweisen, wie sein Verhalten gegenüber dem sicherlich schon zu Lebzeiten erhobenen Vorwurf, er stehe mit dem Teufel im Bunde. Denkbar ist, dass er auf Kosten berühmt-berüchtigter Namen Imagepflege betrieb; denkbar ist, dass er den ihm angehängten Teufelsbund als willkommenes Reklame-Instrument benutzte, als eine superlativische Qualifikation. Denn wer im Zeitalter Luthers den Bösen auf seiner Seite hatte, der konnte alles, was immer er wollte: In keiner anderen Ära galt der Teufel jemals als perfekter Gegen-Gott. War aber den Leuten einmal beigebracht, dass Faust als Paktierer anzusehen war, dann bedeutete es nur noch einen kleinen Schritt, ihn jeglicher Absonderheit, Ungeheuerlichkeit, Widergöttlichkeit für fähig zu halten, aber auch jeglichen Schabernacks, jeglicher Zaubertat, jeglicher Ungebundenheit an Zeit und Raum. Der Faust der Legende, der für die literarischen Darstellungen seines Lebens eine unerschöpfliche Stoffkammer darstellt, kann in den Himmel fliegen und in die Hölle fahren, auf seinem Zaubermantel reisen und auf einem Fass reiten, sich zum Schein ein Bein ausreißen lassen und Schweine in Stroh verwandeln: Er ist — kraft seines teuflischen Kompagnons — der Mann, der alles kann, dem alles zuzutrauen ist, ein Sack voller Sensationen, ein Alleinunterhalter mit schweflichtem Geruch, ein Nonplusultra an Verruchtheit und Dreistigkeit, ein Über-Mensch dank seines immer hilfsbereiten höllischen Gesellen. Der Faust der Legende hat mit dem historischen Faust bald nichts mehr zu tun: Statt einer geschichtlichen Figur entsteht ein Typus, der alle neben und vor ihm typischen Kollegen beerbt und verdrängt.“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 35]
„Das Volk, das Kleinbürgertum im Mittelalter betrachteten den Gelehrten mit abergläubischer Furcht. Er sitzt in seinem Kämmerlein zwischen Glaskolben und Retorten, macht Gold oder Gift, mit dem er die Brunnen vergiften will, in seinem Zimmer hängt ein Skelett, und manchmal kauft er sich einen Leichnam, um ihn zu zerschneiden. All das ist geheimnisvoll und rätselhaft; zweifellos steht er mit Dämonen im Bunde, und wenn er irgendeinen Erfolg hat, dann nicht ohne Grund: die Teufel helfen ihm, und sie helfen ihm, weil er seine Seele dem Teufel verkauft hat. Deshalb sahen die Leute in den finsteren Alchimisten Ketzer und Hexenmeister und konnten ihre Feindschaft nur schlecht verhehlen, und weil die Alchimisten und ihre Schüler sagten, dass sie den Stein der Weisen finden und Gold machen wollten, dass die Wissenschaft zu höchster Macht führt (denn sie spürten die Macht der Wissenschaft, obwohl sie sie falsch interpretierten), entstand bald die Legende, dass die Alchimisten Wunder vollbringen können, allerdings nicht im Namen Gottes, sondern im Namen des Teufels, der sie, trotz aller erlangten Macht, letztlich dennoch überwältigt.“ [Lunatscharski , S. 178]
Faust lebte in einer „,gewaltigen Epoche, ... die mit der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts anhebt. ... In Italien, Frankreich, Deutschland entstand eine neue, die erste moderne Literatur. ... Die Schranken des alten Obis terrarum (Erdkreises, H. H.) wurden durchbrochen, die Erde wurde eigentlich jetzt erst entdeckt und der Grund gelegt zum späteren Welthandel und zum Übergang des Handwerks in die Manufaktur, die wieder den Ausgang bildete für die moderne große Industrie. Die geistige Diktatur der Kirche wurde gebrochen ...
Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit.’ [Friedrich Engels: Dialektik der Natur. Einleitung. In : MEW 20. S. 311 f.]
Mitten in diese ... Epoche wurde Faust hineingeboren. Er war ein Mann, der nach Herkunft und Bildungsweg keine Chance hatte, einen ebenbürtigen Platz neben den ,Heroen jener Zeit’ [ebd.] einzunehmen, aber deren verwegenen ,abenteuernden Charakter’ [ebd.] auf so exemplarische Weise verkörperte, dass er für Zeitgenossen und Nachgeborene zu einer Symbolfigur menschlicher Emanzipation zu werden vermochte ...“ [Hartmann, S. 13 f.]
„… unser Doktor Johannes Faustus ist eine so grundehrliche, wahrheitliche, tiefsinnig naive, nach dem Wesen der Dinge lechzende, und selbst in der Sinnlichkeit so gelehrte Natur, dass er nur eine Fabel oder ein Deutscher sein konnte. Es ist aber an seiner Existenz gar nicht zu zweifeln, die glaubwürdigsten Personen geben davon Kunde ...“ [Heine, S. 36]
„Schon Luther prägt das Faust-Bild nachdrücklich als eines im Zusammenhang von Zauberern, Hexen und Teufel.“ [Heine, S. 92]
„Es scheint eindeutig, dass das Faust-Thema in seiner konkreten geschichtlichen Ausformung ohne Luther ... nicht hätte entstehen können. ... Die literarische Faust-Gestalt des 16. Jahrhunderts konnte erst entstehen, als jemand die beiden an sich voneinander unabhängigen Themen miteinander verband und daraus ein neues Ganzes gestaltete: zum einen die nicht nur farbige, sondern tatsächlich zweifelhafte Gestalt Fausts und zum anderen Luthers Glauben an den Teufel als echten Widersacher Gottes.“ [Füssel, S. 336 f.]
„Unmittelbar nach Fausts Tod begann im Volksmund die mündliche Überlieferung seiner Taten, wobei sich sehr schnell der Bericht über tatsächliche Handlungen des historischen Faust mit der Andichtung von Anekdoten verband, in denen besonders der übernatürliche Kräfte besitzende Magier als Ausdruck der eigenen Wunschvorstellungen des Volkes in immer neuen Abenteuern dargestellt wurde. Dabei entwickelte sich die sagenhafte Figur rasch zu einem vielbewunderten Zauberer und einem mit Hilfe vor allem der Naturwissenschaften nach Erkenntnis strebenden Gelehrten, der sich auch vor verbotenen Schritten nicht scheute. Im Grunde vollzog sich mit dieser Vermischung von Wahrheit und Angedichtetem bei Faust etwas Ähnliches, wie es vorher schon im Zusammenhang mit der Eulenspiegelgestalt geschehen war. ... Während aber in der mündlichen Überlieferung Faust in zunehmendem Maße zu einem bestaunten Helden avancierte, machte sich in den bald einsetzenden schriftlichen Berichten eine andere Tendenz breit. In diesen Werken wurde Faust vor allem als Geisterbeschwörer und Teufelsbündner charakterisiert, wobei ihm wieder Begebenheiten zugeordnet wurden, die sich nachweislich im Zusammenhang mit anderen historischen Persönlichkeiten zugetragen hatten. Tendierte also die mündliche Überlieferung zu einer progressiven Wunschbildgestaltung, so zielte die schriftliche Berichterstattung auf eine Verketzerung Fausts, die immer deutlicher theologischen Einfluss verriet und schließlich bewirkte, dass beim Übergang der Faustsage in die Literatur aus einem bewunderten Leitbild ein warnendes Exempel wurde.“ [Hartmann, S. 21 f.]
„So ist er sicher eine widerspruchsvolle Gestalt gewesen, was der baldigen dichterischen Gestaltung und ideologischen Interpretation gewiss entgegen kam, aber der Beliebtheit dieses Mannes beim zeitgenössischen Volk eher Auftrieb gegeben hat. Im Gegensatz zu den Geistlichen und Gelehrten war er ein Mann des Volkes. Er sprach seine Sprache, wirkte nicht in Kirchen und Hörsälen, sondern in Wirtshäusern und auf dem Markt. Als fahrender Geselle war er mit ihm unterwegs auf den Landstraßen. Was er an Scharlatanerie betrieb, entsprach den Erwartungen der Massen. Was er an wirklichen wissenschaftlichen Einsichten besaß und an ketzerischen Ansichten vertrat, weckte ihre offene oder versteckte Bewunderung. So hatte er im Leben gewaltigen Zulauf und wurde nach dem Tode nicht vergessen, sondern im Gegenteil zu einer Gestalt, der man seine Hoffnungen und Wünsche andichtete ...“ [Hartmann, S. 19]
„Die mündliche volkstümliche Überlieferung (Faustsage) beschäftigt sich
1. mit seinem Teufelsbündnis und schrecklichen Ende
2. mit seinen Wundertaten, Luftfahrten, Beschaffung wunderbarer Mahlzeiten
3. seinen verschiedenen Streichen und Schelmenstücken.
Er verschlingt Personen und Gegenstände, prellt Juden und Wucherer, verkauft Strohwische für Pferde und Schweine. In Leipzig reitet er ein Fass aus dem Keller, einer Tischgesellschaft lässt er beinahe an Stelle von Weintrauben sich die Nasen abschneiden.“#
„Nach Richard Stecher [a] wurde die Sage nach dem Erscheinen des Buches von Johann Spies … von dem Hamburger G. R. Widmann überarbeitet. Einen Auszug daraus veröffentlichte der Nürnberger Arzt Nikolaus Pfitzer. ,Endlich erschien im ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts eine zeitgemäße kurze Zusammenfassung des Werkes von einem anonymen Verfasser, der sich als ein »Christlich Meinender« bezeichnete. In dieser Gestalt drang das Volksbuch in die weitesten Kreise und wurde auch von Goethe in seiner Knabenzeit gelesen.’ Stecher fasst die Sage zusammen:
Sie handelt von einem jungen Mann namens Johann Faust, Sohn eines Bauern, der nach dem Besuch der Schule in Wittenberg Theologie studiert und den Doktorgrad erwirbt. Später studiert er auch ,Medizin, Astrologie und was sonst mit der Magie zusammenhing.’ Er ererbt ein Vermögen von seinem Vetter, gibt dies aber schnell aus. ,Sein unbegrenzter Durst nach Erkenntnis’ führt dazu, dass er in einem Wald bei Wittenberg den Teufel beschwört, der ,in der Gestalt eines grauen Mönches’ erscheint und am nächsten Tag wiederkommen will. Dies geschieht, wobei der Teufel ,zunächst als Schatten hinter dem Ofen und dann als zottige Bärengestalt mit einem Menschenkopf’ auftritt. Faust schließt einen Bund mit dem Teufel ab. Der Teufel soll ihm 24 Jahre lang dienen, dafür soll er Fausts Seele bekommen. Der Vertrag wird mit Fausts Blut unterzeichnet. Der Teufel ,solle ihn nach 24 Jahren holen dürfen; wenn bis dahin alle seine Wünsche erfüllt würden.’ Der Teufel nennt sich Mephistopheles und dient Faust gemäß dem Vertrag. ,Er verschafft ihm auch einen Famulus, Christoph Wagner mit Namen, und den wunderbar gelehrigen Pudel Prästigiar.’ Faust frönt fortan dem Genuss. Er beginnt zu reisen und ,seine magischen Künste’ zu zeigen. In Leipzig reitet er auf einem Weinfass aus Auerbachs Keller, in Erfurt zapft er Wein aus einer Tischplatte, er besucht den Hof des Papstes in Rom, den Sultan in Konstantinopel, den Kaiser in Innsbruck und den Grafen von Anhalt. Nach 16 Jahren bereut er den Vertrag und will ihn aufheben, doch der Teufel schließt einen erneuten Pakt mit ihm. Er verschafft ihm Helena aus Griechenland, mit der Faust einen Sohn namens Justus zeugt, unter der Auflage, dass beide mit Faust sterben müssten. Darum bestimmt Faust seinen Famulus zu seinem Erben. Am letzten Tag der 24 Jahre erscheint ,Satan, der Oberste der Teufel’ ihm in furchterregender Gestalt und kündigt ihm für die kommende Nacht den Tod an. Zweimal verhindert Mephistopheles den Suizid des Verzweifelten. Den letzten Abend verbringt er im Dorf Rimlich in der Gesellschaft seiner Freunde. Er bewirtet sie, ,ermahnt sie zur Buße und Frömmigkeit’ und nimmt Abschied von ihnen. Zwischen Mitternacht und ein Uhr zieht ein starker Sturm auf. In Fausts Zimmer entsteht ,ein Höllenlärm’. Am nächsten Morgen finden die Freunde die Wände im Zimmer mit Blut und Hirnmasse bespritzt, Fausts Augen liegen auf dem Boden, sein Leichnam im Hof ,auf dem Miste’. Er wird ,in aller Stille’ begraben.“ [http://wiki.anthroposophie.net/Johann_Faust]
„Schnell, schon in den 1548 von dem protestantischen Pfarrer Johannes Gast in Basel veröffentlichten Sermones Convivales, fand sich auch eine erste schriftliche Darstellung, in der Faust Zauberhund und Zauberpferd als ständige Begleiter zugeordnet und als verkleidete Teufel interpretiert wurden. Damit war der Anfang der Sagen- und Legendenbildung geschaffen.“ [Hartmann, S. 18]
Drei Werke gibt es, die die Geschichte um den literarischen, also um die Kunstfigur Faust prägend, ja, maßgeblich beeinflusst haben: Das ist zum einen die Historia von 1587, zum andern sind das die Puppenspiele und zum letzten ist es der goethesche Faust.
„Nächst Goethes Faust hat ohne Zweifel das alte Puppenspiel von Faust unter allen Werken, wozu die Faustsage Veranlassung gegeben hat, das größte poetische Verdienst. Es stellt die Faustsage anziehender dar als das Volksbuch und reiner als Goethe, der sich nach dem Grundgedanken seines Gedichtes von der Sage, der Fausts Höllenfahrt wesentlich ist, entfernen musste. Von dem Werk des großen Meisters wird es nicht in Schatten gestellt; es ist in seiner volksmäßigen Art ebenso kühn und geistreich erfunden und durchgeführt; als Bühnenspiel runder und von stärkerer, wenn auch nicht so tiefgreifender Wirkung. Außerdem hat es als die nächste Quelle Goethes, sowie Lessings und Maler Müllers, eine große Bedeutung.“ [Mahal, S. 5]
„Die Faust-Dichtungen leben dann gemäß der ersten berühmten, anonym bei Johann Spies in Frankfurt am Main erschienenen Faust-Biographie Historia von D. Johann Fausten aus dem Jahre 1587 ihrerseits von der Überlieferung des Teufelspaktes, der freilich auf manche Heiligenlegenden, darunter die von Theophilus aus dem 9. Jahrhundert oder Cyprian aus dem 4. Jahrhundert, zurückgeht. Letztere verweist wiederum auf eine ,Dirnen- und Liebeszaubererzählung’ von Lukian. [b] Selten zeigt sich so deutlich wie beim Faust-Thema, dass die Dichtung an Traditionen fortspinnt und weiterarbeitet. Für die deutsche Literatur wurde der Faust zu einer ständigen Herausforderung, gleichzeitig zu einem Sujet mit europäischen Verflechtungen, wie der spanische Don Juan und der polnische Twardowski zeigen.“ [Heine, S. 92]
Aber „Es ist nicht eigentlich die Legende vom Theophilus, Seneschall des Bischofs von Adama in Sicilien, sondern eine alte anglosächsische, dramatische Behandlung derselben, welche als die Grundlage der Faustfabel zu betrachten ist.“ [Heine, S. 6]
„Die Symbolfigur für den neuzeitlichen Erkenntnisfortschritt, der seinem Wesen nach ein wissenschaftlicher ist, hat hier die erste literarische Gestaltung erfahren — und, um den Kernpunkt vorwegzunehmen, es hat den Anschein, dass ihre Existenzform überhaupt die literarische Gestaltung und nur sie ist. Als kommentierende Randbemerkung mag der Hinweis gelten, dass die anderen drei mythischen Gestalten der neuzeitlichen europäischen Literatur ungefähr gleichen Alters mit Faust sind: Don Quixote, Hamlet, Don Juan.“ [Füssel, S. 331 f.]
„Ob es nun freilich aus jenen Notizen, die der alte Laurentius Wolff hinterlassen hatte, im Hause Spies zusammengefügt wurde oder ob der Autor der Speyrer Rektor des dortigen Ratsgymnasiums* gewesen ist, das muss die Fachwelt kümmern.
Dagegen hat schon mehr Gewicht, dass es im streng protestantischen Frankfurt entstand und streng protestantische Prüfer überzeugen musste, ehe es zum Druck freigegeben wurde. Denn darauf sind die gelegentlichen Seitenhiebe auf Papst und Rom ebenso zurückzuführen wie vor allem der mahnend-pastorale Gesamtcharakter. Wenn man jedoch [...] diesen beiseitelässt, ergibt sich, fast wie durch die Hintertür, ein durchaus positives Faust-Bild, eines, das eigentlich den Vorstellungen der Prüfer gar nicht entsprochen haben dürfte.
Der Aufbau sieht dann auch entsprechend aus: die 68 Kapitel sind in vier Abschnitte gegliedert, deren erster von Fausts Jugend über Studium und Teufelspakt bis zu den ersten Begegnungen mit den Höllengeistern reicht. Der zweite beschäftigt sich mit Dämonen- und Sternkundefragen, im dritten sind alle Schwänke und ‚seltzamen Abentheuwer‘ zusammengefasst und im vierten ‚sein jämmerliches erschreckliches End unnd Abschiedt‘, jene berühmte ‚Weheklag‘ samt ihren Folgen.
Das kräftige Gemeindeutsch Luthers, der straffe, oft geradezu dramatische Aufbau verfehlten ihre Wirkung nicht, und wenn das Buch auch bis vor kurzem noch als ‚rechte Stümperei‘ abgetan wurde, so gilt es heute bereits als ‚das für die Weltliteratur vielleicht wichtigste Literaturerzeugnis des Reformationsjahrhunderts**‘ und als eine ‚eigenständige und in sich geschlossene Faust-Konzeption ..., die sich in der Kühnheit des Entwurfs und der Stimmigkeit der Gedankenführung durchaus mit den Faust-Konzepten späterer Jahrhunderte messen kann***‘.
Für die Menschen jener Zeit aber war es ein Fanal. Endlich einer, der es gewagt hatte, die tausend Zwänge abzustreifen, frei zu werden, zu rebellieren, aus der vorgegebenen Enge auszubrechen und die verbotene Weite zu erobern, ohne dass ihn jemand daran hätte hindern können. Nun, da Bauernkrieg und Reformation nur noch stärker unter die Knute der Fürsten gezwungen hatten, wurde eben der Teufelsbündler zum Heros.“ [Maus, S. 278 f.]
„Faust ist im so genannten Volksbuch tatsächlich ein Teufelskerl, oft eine Mischung aus Eulenspiegel und Münchhausen, immer erfolgreich, oder der Leser vergisst schnell, dass er das ja alles nur vermag, weil er den Teufel als Kumpan im Hintergrund hat. Daraus erklärt sich, warum die Historia die Absicht ihres Schreibers schnell ins Gegenteil verkehrte, zum Bestseller wurde, der den Druckern geradezu aus der Hand gerissen wurde und wider Willen den bösen Faust zu einem bewunderten Man machte.“ [Conradt/Huby, S. 257]

„Das Faust-Buch war in gewissem Sinn reine Unterhaltungsliteratur, doch wurde Fausts frevelhaft-dämonisches Treiben, wie öfters verbürgt, im Sinne der kirchlichen Autorität der Zeit als strafwürdig und gefährlich angesehen. Wie gefährlich der Stoff war, dafür sei hier der für die Situation des 17. Jahrhunderts sehr bezeichnende und eindrucksvolle Bericht des Pfarrers von Heckstet, M. Caspar Titius in »Loci Theologici Historici«, Wittenberg 1667 erwähnt, der berichtet, wie der Teufel sich bei einer Faustaufführung in London unter die Komödianten gemischt und sie vom Gerüst gejagt habe. Aus diesem Grunde ist das Faust-Buch mitunter ohne Nennung des Autors oder Verlegers erschienen. Der Verfasser des Spiessschen Volksbuches ist nach G. Milchsack als Lutheraner strengster Observanz (Milchsack: Anti-Melanchthonianer) anzusehen, was sich in seiner pessimistischen Grundeinstellung, dem Fehlen der Rettungsmöglichkeit für Faust äußert.“ [Wegner, S. 16 f.]

Die Historia von D. Johann Fausten ist nunmehr 400 Jahre alt. Ihr erstes Erscheinen in der literarischen Öffentlichkeit ist mit der Buchmesse in Frankfurt am Main vom Herbst 1587 datierbar. Alle Indizien weisen darauf hin, dass sie tatsächlich auch erst kurze Zeit vor diesem Datum verfasst worden ist. ... Dass der Herbst 1587 nun aber die Geburtsstunde eines der bedeutendsten Themen der Weltliteratur war, lässt sich nur im geschichtlichen Rückblick konstatieren. ... Goethes Tragödie ... ist für die außerordentliche Nachwirkung des Faust-Themas gewiss von entscheidender Bedeutung, aber diese Wirkung erklärt sich keineswegs aus dem goetheschen Faust allein. Das im 16. Jahrhundert erstmals geprägte Thema besitzt bereits bestimmte Eigentümlichkeiten, die für alle darauf beruhenden jüngeren Kunstwerke Grundzüge festlegen. Es hat den Anschein, dass das Faust-Thema seine spezifische Anziehungs- und Überzeugungskraft für die Neuzeit im engeren Sinne in der deutschen Aufklärung gewonnen hat.“ [Füssel, S. 330]
„Man muss sich nun gegenwärtig halten, dass das Volksbuch den historischen Faust von dem der Sage nicht trennt, sondern die Geschichte eines Zeitgenossen erzählt. Scharfsinnige Untersuchungen haben eine komplizierte Entstehung dieser Geschichte wahrscheinlich gemacht, ihrem eigentlichen inneren Verlauf wird man jedoch kaum auf den Grund kommen. Anleihen, wörtliche Entlehnungen aus spätgotischen Volksbüchern wie der Schedelschen Weltchronik, aus dem alten Lucidarius, aus Lucifers Fall oder der Legende vom Zauberer Simon sind nachweisbar; wenig ist dagegen von dem neuen kosmischen Weltbild zu spüren – aber gerade dieses Zwielicht und Zwischenzeitliche war schöpferisches Medium für das Erscheinen einer solchen Gestalt.
Das Hauptmotiv vom Faust, der Pakt mit dem Teufel, ist uralt und stammt aus frühchristlicher Zeit: Die Legende vom Vicedominus Theophilus aus dem 6. Jahrhundert enthält zuerst eine Verschreibung mit dem Teufel, der aber Reue und Gnade folgen. Sie wird im 10. Jahrhundert von der Roswitha von Gandersheim in lateinische Verse gefasst und findet sich später auch in der Legenda aurea. Das Volksbuch vom Doktor Faustus aber ist nachmittelalterlich, zeigt sich von den Mächten der Reformation und Renaissance bestimmt. Hier gibt es keine Reue und Gnade. Und erst dadurch wird auch der historische Faust, der nur den Ruf des Zauberers und Schwarzkünstlers zurückgelassen hat, zur symbolischen Gestalt. Zu der Redaktion des Ganzen vom lutherischen Standpunkt aus passt der Druck in Frankfurt, einer streng lutherischen Stadt, wie denn auch der Schauplatz der Geschichten gern in die Heimat des Luthertums, Wittenberg und Erfurt, verlegt wird. Die protestantische Grundeinstellung macht die wütenden Angriffe auf das Papsttum begreiflich. Allerdings ist es auch nicht mehr das mittelalterliche Papsttum, dem Faust auf seiner Ausfahrt zu Rom begegnet — voraus ging die Epoche der Renaissance-Päpste, die manche Angriffsflächen bot, wie sie denn hier auch weidlich zu wüsten Sittengemälden ausgenutzt werden.“ [Benz, S. 161 f.]
„Die Volksbücher ... sind keineswegs gleichlautend. Die meisten sind willkürlich zusammengestoppelt aus zwei ältern großen Werken über Faust, die, nebst den so genannten Höllenzwängen, als die Hauptquellen für die Sage zu betrachten sind. ... Das älteste dieser Bücher über Faust ist 1587 zu Frankfurt erschienen bei Johann Spies ... Dieses alte Frankfurter Faustbuch ist weit poetischer, weit tiefsinniger und weit symbolischer abgefasst, als das andere Faustbuch, welches Georg Rudolph Widman geschrieben und 1599 zu Hamburg herausgegeben. ... Die dritte Hauptquelle der Faustsage, die so genannten Höllenzwänge, sind in Lateinischer, zum Teil in deutscher Sprache abgefasst und dem Doktor Faust selbst zugeschrieben. Sie sind sehr wunderlich voneinander abweichend und kursieren auch unter verschiedenen Titeln.“ [Heine, S. 35]
„Faust ist tot, es lebe Faust — das war der Effekt, den die Historia, dieses Buch voller Liebe, Sex, Zauber, Tod und Teufel erzielte. Ein Bestseller war geboren, und er wurde gelesen, wie kein anderes Werk in jenen Tagen — Urquell einer Flut von Werken über den Magus Maximus Kundlingensis, die heute zu einem Bücherberg von mehr als 20000 Bänden angeschwollen ist.
Der Erste, der eine Nachdichtung unternahm, war ein Engländer: Shakespeares bedeutendster Vorläufer Christopher Marlowe. Englische Komödianten spielten seine Tragödie landauf, landab und gastieren damit auch auf dem europäischen Festland. Von ihnen übernahmen es die Puppenspieler, bei denen es wiederum Goethe kennen lernte.
Da spätestens war der Knittlinger unsterblich.“ [Conradt/Huby, S. 264]


Conradt, Marcus:
Die Geschichte vom Doktor Faust / Marcus Conradt ; Felix Huby. – München : Verl. Steinhausen, 1980. – 304 S.
ISBN 3-14-11681-6

Doktor Johannes Faust : Puppenspiel in vier Aufzügen / hrsg. von Günther Mahal. - Stuttgart : Reclam, 2006. – 131 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 6378)
ISBN 978-3-15-006378-1

Faust-Museum Knittlingen:
Exponate, Materialien, Kommentare. / Zusammengestellt von Günther Mahal unter Mitarbeit von Brigitte Bruns und Ottmar Maier – Stuttgart : Verlag Paul Daxer, 1980. – 194 S.
ISBN 3-922815-00-6

Hartmann, Horst:
Faustgestalt, Faustsage, Faustdichtung / Horst Hartmann. – 5. Aufl. – Berlin : Volk u. Wissen, 1989. – 223 S. : Ill. (Interpretationen, Dokumentationen)
ISBN 3-06-102653-3

Heine, Heinrich:
Der Doktor Faust : ein Tanzpoem nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst / Hrsg. von Joseph A. Kruse. - Stuttgart : Reclam, 2007. – 109 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 3605)
ISBN 978-3-15-003605-1

Historia von D. Johann Fausten : dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler / hrsg. von Richard Benz. - Stuttgart : Reclam, 2006. – 165 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 1515)
ISBN 978-3-15-001515-5

Historia von D. Johann Fausten : Text des Druckes von 1587 ; kritische Ausgabe / hrsg. von Stephan Füssel… - Stuttgart : Reclam, 2006. – 351 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 1516)
ISBN 978-3-15-001516-2

Lunatscharski:
Faust und die Stadt. Ein Lesedrama. Mit Essays zur Faustproblematik. / Lunatscharski, Anatoli W. — Leipzig, Verlag Philipp Reclam jun., 1973. 249 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 91)
Lizenz-Nr. 363. 340/41/73

Maus:
Faust — Eine deutsche Legende / Maus, Hansjörg. — Wien und München, Meyster Verlag GmbH, 1980. 396 S. (Reclams Universal-Bibliothek ; 3605)
ISBN 3 7057 6001 7

Wegner:
Die Faustdarstellung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Mit 90 Abbildungen / Wolfgang Wegner. — Amsterdam: Verlag der Erasmus Buchhandlung, 1962. 135 S.

# Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Herausgegeben von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer (Digitale Bibliothek; 145) Berlin: Directmedia 2006. Artikel „Faustus (Zauberer)“ von Lily Weiser, S. 5884-5890. Zitate S. 5884 f.
Hier in http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/legenden-maerchen-und-sagenmotive/koenig-watzmann-eine-sage-ueber-die-entstehung-der-berggesichter.html

* H. Henning, Einleitung zu Volksbuch-Ausgabe, Halle 1963.

** H. Henning, Das Faustbuch von 1587, Weimarer Beitr. 6/1960.

*** B. Könnecker, Faust-Konzeption und Teufelspakt im Volksbuch von 1587, Bad Homburg 1976.

[a] Richard Stecher: Erläuterungen zu Goethes „Faust“ I. Teil; erschienen in: Dr. Wilhelm Königs Erläuterungen zu den Klassikern. 21–21a Bändchen (Doppelheft). Leipzig: Hermann Bayer Verlag, o.J.10

[b] Vgl. hierzu: Frank Baron, Faustus. Geschichte, Sage, Dichtung, München 1982, S. 17-19 und 44.



 

 

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