Die Volksbücher und Höllenzwänge


Die Volksbücher

„Als der Frankfurter Buchdrucker Johann Spies im Jahre 1587 die »Historia von D. Johann Fausten« zum ersten Mal veröffentlichte, deutete noch nichts darauf hin, dass mit diesem schmalen und — die wenigen erhaltenen Exemplare beweisen es — ohne sonderliche Sorgfalt gedruckten Bändchen eine Schlüsselfigur des europäischen Denkens in die Literatur eingetreten war. In einer Vorrede, mit der das Buch dem kurmainzischen Amtsschreiber Caspar Colln und dem gräflich königsteinischen Rentmeister Hieronymus Hoff zugeeignet wurde, beruft sich Spies auf die große Nachfrage nach einer zusammenfassenden Darstellung der Abenteuer des berühmten Schwarzkünstlers, der er — als Buchhändler notabene — nachkommen möchte, ohne jedoch von dem Buche selbst allzu viel Wesens zu machen.
Dass die löbliche Bescheidenheit des ersten deutschen Faustverlegers durchaus ihre Gründe hatte, wurde bald deutlich. Schon im Januar 1588 erschien bei Alexander Hock in Tübingen eine gereimte, von zwei Studenten hergestellte Neufassung des Faustbuches, die von einer herzoglichen Kommission unverzüglich als literarische Konterbande eingezogen wurde; nicht genug damit, beschloss der akademische Senat: »Hockium wölle man sampt denen authores, so die historiam Fausti [verfertiget], einsetzen und darnach einen guten Viltz geben.«
Spies tat also nur gut daran, sein Buch zwei einflussreichen Freunden zuzueignen; seine Vorrede schließt mit der höflichen Bitte, die Adressaten möchten doch, zumal ohnehin mit zeitlicher Nahrung und leiblichen Gütern wohlversorgt, mit dem »geringen Meßkram« auf diesmal vorlieb nehmen. Ob die beiden Herren dieser Bitte entsprachen oder die öffentliche Dedikation solch zwar geringen, aber immerhin nach Pech und Schwefel dünstenden Messkrams entrüstet von sich wiesen, verschweigt die Historie; auf jeden Fall aber ermutigte der Erfolg des Buches den Verleger, im folgenden Jahr ungeachtet des Missgeschicks, das seinen Tübinger Kollegen Hock betroffen hatte, eine Neuauflage in Umlauf zu bringen, der sich bis zum Ende des Jahrhunderts — also noch vor Erscheinen des erweiterten und kommentierten Faustbuches, das 1599 durch Georg Rudolf Widmann herausgegeben wurde — nicht weniger als neun Piratendrucke zugesellten.“ [Doctor Fausti Weheklag, S. IX f.]

„1587, knapp ein Halbjahrhundert nach Fausts Tod, erscheint mit der Historia von D. Johann Fausten das erste literarische Zeugnis einer heute in die Tausende gehenden Fülle von Faust-Gestalten zwischen Buchdeckeln. In diese Historia, die wenig zutreffend Volksbuch genannt worden ist, weil dieser romantisierende Terminus falsche Verfassererwartungen weckt und die damals weitverbreitete Lese-Unfähigkeit unberücksichtigt lässt – in dieses sogenannte Volksbuch also, abgefasst von einem bisher nie identifizierten Anonymus, mündet die gesamte Legendenflut, die sich schon zu Fausts Lebzeiten und besonders nach seinem Tod angestaut hatte: Faust ist einer, der aus nimmersatter Unzufriedenheit ein Teufelsbündnis auf 24 Jahre abschließt, mit vollen Backen in Saus und Braus lebt, jede Unmöglichkeit möglich macht, nach Gusto lieben und strafen und Schabernack treiben kann – und der am Schluss die höllische Quittung präsentiert bekommt. ,Recht geschieht's ihm!' – so ist die Leserreaktion der Historia eindeutig programmiert: Faust dient zum Exempel für ein Leben, wie es ein rechter Christenmensch nimmermehr anzustreben habe. Trotz der wenigen Lesefähigen wurde das Buch rasch ein Bestseller: Neuauflagen, Raubdrucke, eine Reim-Fassung, mehrere Übersetzungen (die wichtigste ins Englische, eine Vorlage für Christopher Marlowes Dramatisierung) machten es berühmt, auch unter den Analphabeten, denen die predigenden Pfarrer diese warn-wirksame Geschichte nicht vorenthielten. – 1599 erschien der zweite Volksbuch-Typ, das dickleibige Werk Georg Rudolf Widmans, das nicht nur die Faust-Geschichten bot, sondern seitenlange und oft penetrant moralisierende Erinnerungen hinter jedes Kapitel stellte. – Der dritte Typ stammt vom Nürnberger Arzt Nikolaus Pfitzer, der im Wesentlichen Widman abschreibt und nur geringfügig kürzt. Auch er huldigt wie sein Vorgänger einer Form von protestantisch-orthodoxer Holzhammer-Exegese, welche die Lektüre weniger zum Vergnügen als vielmehr zur Strafe und Bußübung werden lässt. – Der vierte und letzte „Volksbuch“-Typ wird von einem pseudonymen Christlich Meynenden 1725 auf den Markt gebracht: ein dünnes Bändchen, rationalistisch-dürr nur noch die Hauptfakten referierend, eigentlich eine prosaische Moritat von einem kuriosen Kerl aus voraufklärerischer Zeit. Dieses Büchlein war in Jahrmarktsdrucken während des 18. Jahrhunderts weit verbreitet, und vermutlich hat Goethe es gekannt. – Im 19. Jahrhundert, sozusagen im Schlepptau des durch Goethes Faust neu geweckten Interesses für die früheren Stufen der Faust-Tradition, gibt es eine ganze Reihe von Kurzfassungen über Fausts Leben, Pakt und Tod, die oft illustriert erscheinen, meist schnurrig oder aber gotisch-gruselig präsentiert werden, massenhaft verbreitet und deshalb im quantitativen Sinn tatsächlich Volksbücher.
“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 61]

Allen „Überlieferungen ist gemeinsam, dass ein Mensch, unzufrieden mit den Möglichkeiten seines Erdendaseins, seine Seele — den unsterblichen, jenseitsgebundenen Teil seiner Existenz — dem Teufel verschreibt, um mit Hilfe der dafür eingetauschten dämonischen Kräfte, sein diesseitiges Leben in die Bereiche des entgrenzten Eros, der Macht, des Zaubers oder der Erkenntnis hinein zu erweitern. Es bedarf keiner längeren Erläuterung, dass der Gedanke des Teufelspaktes nur auf der Grundlage christlicher Jenseitsvorstellungen überhaupt gefasst werden konnte. Der Vertragspartner des Teufelsbündners ist — von den frühesten Überlieferungen vielleicht abgesehen — also allemal ein christlicher Teufel, der Widersacher Gottes und Herr des höllischen Gegenjenseits, dessen dubiose Beweisbarkeit durch die Heilige Schrift im Grunde nur auf den dialektischen Vorgang verweist, dem er seine Existenz verdankt.“ [Doctor Fausti Weheklag, S. XXX]

Höllenzwänge

Höllenzwänge sind Anleitungen für die Bemühung, einen oder mehrere Teufel herbei zu zitieren, um dann mit diesen Abgesandten Luzifers ein Geschäft zu tätigen: beispielsweise einen Schatz zu finden, einem Feind Schaden zu bringen oder einen Pakt zu schließen. Im letzteren Fall muss dem Teufel eine Gegenleistung angeboten werden, die vom Unterlassen des Kirchgangs bis hin zur Verpfändung des ewigen Seelenheils reichen kann. Damit der Böse überhaupt erscheint, sind umfängliche Prozeduren vorzunehmen und wichtige Vorsichtsregeln zu beachten: Der Beschwörer muss sich – paradoxerweise angesichts seines infernalischen Ansinnens – durch viele Gebete, durch Fasten und durch sexuelle Askese reinigen, damit dem Teufel keine Angriffsfläche mehr übrig bleibt. Er muss die benötigten Instrumente weihen und den obligatorischen Zauberkreis mit komplizierten Figuren (Sigillen) ausstatten, damit er in ihm sicher sei und ihn der von ihm Gerufene nicht gleich ins höllische Feuer abschleppen könne. – Die hinter diesen Höllenzwängen stehende Vorstellung ist die eines auf Erden allmächtigen Teufels, eines Gegengottes, eines Herrn dieser Welt. Eine zweite, im Mittelalter besonders verbreitete Vorstellung kommt hinzu: Dass es möglich sei, ohne Gegenpreis aus der Affäre zu kommen, durch eigene List oder durch die Hilfe des gütigen und verzeihenden Himmels. – In der Tat haben die Höllenzwänge eine längst vor dem historischen Faust belegte Tradition. Vor allem die Clavicula Salominis, die Schlüssel Salomons, galten als wirkmächtige Rezepturen, mit den bösen Geistern in Kontakt und ins Geschäft zu kommen; der weise Salomon wurde seit der Antike als großer Geisterbeschwörer und Magier angesehen. Die ihm während des Mittelalters zugeschriebenen Texte konnte Faust „erben“: An ihrem Inhalt änderte sich nichts, lediglich der jedes Mal fingierte Verfassername wurde ausgetauscht. Möglicherweise stammen die ersten unter Fausts Autorenschaft angepriesenen Höllenzwänge aus dem späten 17. Jahrhundert; meist handelt es sich um Texte des 18. Jahrhunderts, Handschriften und Drucke, oft extrem weit rückdatiert – sogar auf Erscheinungsjahre, zu denen der historische Faust noch nicht einmal geboren war. Faust löste also hier Salomon und andere frühere Großmagier ab: Sein Name hatte im 17. und 18. Jahrhundert einen besseren Reklameklang ...“ [Faust-Museum Knittlingen, S. 71]

„Gedruckte Höllenzwänge unter Fausts Namen tauchen bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf — Handschriften sogar noch früher. [...]
Was nun den Inhalt dieser Bücher betrifft, so enthalten sie gerade das, was die »Historia von D. Johann Fausten« nicht enthält — nämlich die »formae coniurationum«, die Formeln und Riten der Beschwörung, die Johann Spies vorsätzlich umgangen und ausgelassen hatte. Vielleicht wusste der gewitzte Verleger, dass mit Höllenzwängen Geschäfte ganz anderen Maßstabes zu machen waren; sicher aber wusste er auch, dass solche Geschäfte das fatale Risiko einschlossen, öffentliches Ärgernis zu erregen und in der Folge das betrübliche Geschick des Kollegen Hock aus Tübingen zu erleiden — oder gar noch Schlimmeres, wenn man bedenkt, dass im 16. Jahrhundert auch in Deutschland die Inquisitionstribunale tagten und Hexenprozesse an der Tagesordnung waren; das waren Dinge, aus denen ein ehrsamer Buchdrucker sich besser heraushielt.
Dennoch hatte die nahezu industrielle Produktion magischer Literatur, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts florierte, schon im 16. Jahrhundert ihre Vorläufer. Bereits zur Zeit Luthers gab es Höllenzwänge, in der Regel aus älterem magischem Schrifttum [...], Zauberlegenden, Volksaberglauben und gänzlich sinnlosem Abrakadabra verstümmelt und kompiliert. Dass einige von ihnen Faust zugeschrieben wurden, andere Wagner, Cyprian oder den im Geruch der Zauberei stehenden Jesuiten, hatte seinen guten Grund: der in ihnen vorgebrachte, oft aberwitzige Galimathias sollte durch den Namen eines notorischen Hexenmeisters sozusagen magisch kanonisiert werden.
All diesen Werken ist gemeinsam, dass sie Anleitung geben, wie man sich mit den Geistern und Fürsten der Hölle in Verbindung setzen, sie herbeizitieren und ihren Gehorsam erzwingen kann — die Existenz von Geistern notabene vorausgesetzt. Die verschiedenen Formen der Beschwörung sind insofern magisch (im wahren Sinne des Wortes), als sie Zum Teil noch auf dem vorreligiösen Glauben an die Macht des Wortes und des Rituals — psychologische Erklärungsversuche einmal beiseite — beruhen; da aber im christlichen Mittelalter Geister nur innerhalb des christlichen Kosmos existieren können, als Trabanten des aus der Gnade gefallenen Erzengels, muss [...] Auch die Kraft der Beschwörung in der Macht Gottes verankert sein.
Dann aber darf es nicht wundernehmen, wenn in den Höllenzwängen neben Resten echter Magie stets auch ein gut Teil christlichen Afterglaubens im Spiele ist und das Bild der eigentlich magischen Praxis trübt.“ [Doctor Fausti Weheklag, S. XXXIX ff.]

Doctor Fausti Weheklag:
Doctor Fausti Weheklag. Die Volksbücher von D. Johann Faust und Christoph Wagner. Sammlung Dieterich. / Nach den Erstdrucken herausgegeben und eingeleitet von Helmut Wiemken – Bremen : Carl Schünemann Verlag, 1980. 310 S.
aus der Einleitung

Faust-Museum Knittlingen:
Faust-Museum Knittlingen. Exponate, Materialien, Kommentare. / Zusammengestellt von Günther Mahal unter Mitarbeit von Brigitte Bruns und Ottmar Maier – Stuttgart : Verlag Paul Daxer, 1980.



 

 

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